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Medieval Population and Space
Projektbeschreibung
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Projektbeschreibung
Projektskizze Medieval Population and Space
Wer waren die ersten Berliner?
Auf Basis der hervorragend stratifizierten Skelettserie vom St. Petri-Kirchhof der mittelalterlichen Stadt Cölln an der Spree (heute Teil des Stadtbezirks Berlin-Mitte) sollen erstmals Aussagen zur mittelalterlichen Bevölkerung Cöllns gewonnen werden. Von dem Kirchhof wurden zwischen 2007 und 2009 die Gebeine von 3.718 Personen geborgen, darunter fast 300 Mehrfachbestattungen (bis zu 12 Personen). Es handelt sich um Gräber, die von der Gründung der mittelalterlichen Siedlung um etwa 1200 bis 1717 entstanden. Im Jahr 1717 wurde der St. Petri-Kirchhof aus hygienischen Gründen geschlossen. Er galt schon zu Ende des 16. Jahrhunderts als voll belegt.
Unsere transdisziplinäre Arbeitsgruppe hat sich zum Ziel gesetzt, die auf dem St. Petri-Friedhof erkennbaren Mortalitätsphasen zu analysieren, um daraus Parameter zur Entwicklung der lokalen mittelalterlichen Bevölkerung abzuleiten sowie die räumliche Entwicklung der Belegung in einem Geografischen Informationssystem nachzuvollziehen. In einer Kombination von datenbankgestützten archäologischen und forensisch-osteologischen Analysen mit naturwissenschaftlichen Untersuchungen (DNS-Untersuchung, Radiokarbondatierung, Strontium-Isotopenuntersuchung) sollen ausgewählte Individualdaten erhoben und mit Parametern von publizierten mittelalterlichen Skelettserien aus Berlin/Brandenburg und mit paläopathologischen Daten von 12.000 mittelalterlichen Skeletten aus dem Großraum London verglichen werden.
Berlin und Cölln sind nach Auffassung der historischen Forschung im 12./13. Jahrhundert beidseits der Spree als Marktsiedlungen des Fernhandels entstanden und entwickelten sich schnell zu Städten. Grundlegende Fragen betreffen den Zeitpunkt des Siedlungsbeginns und die Herkunft der ersten Siedler. Beide Orte haben etwa um 1230 Stadtrecht erhalten. Die Erforschung der Schriftzeugnisse galt als erschöpft und eine weitere Klärung der offenen Fragen wurde von der archäologischen Forschung erhofft. Ein erster Versuch, sich mit archäologischen Mitteln den Fragen zur Frühentstehung Berlin/Cöllns zu nähern, wurde 1956-1958 an der Berliner Nikolaikirche unternommen. Dabei kam als älteste Anlage eine romanische Feldsteinbasilika mit einem darunter befindlichen, christlichen Gräberfeld zu Tage. 72 Gräber waren älter als die Feldsteinbasilika und wurden als „vorstädtische“ Bestattungen interpretiert, weil ein Zusammenhang zwischen der Errichtung der Feldsteinbasilika und der Stadtrechtsverleihung (um 1230) vorausgesetzt wurde. Von 1980-1983 fanden weitere Untersuchungen statt, um Ausdehnung und Belegungsdichte des vorstädtischen Gräberfeldes zu klären. Dabei wurden fast 500 Gräber freigelegt, darunter 19 „vorstädtische“. Somit liegen für den Siedlungsbeginn in Berlin Individualdaten von 33 Individuen vor. Aufgrund von Beobachtungen im keramischen Formenspektrum wird von archäologischer Seite davon ausgegangen, dass sich Anfang des 13. Jahrhunderts in der Region Brandenburg Einwanderer aus westlichen und südwestlichen Regionen niedergelassen und mit einer noch ansässigen, spätslawischen Bevölkerung vermischt hätten. Die anthropologische Forschung geht dieser Frage bisher aus dem Weg. Das liegt unter anderem auch daran, dass selten so aussagekräftiges Skelettmaterial wie an der Berliner Nikolaikirche und am Petriplatz gefunden wird.
Schon im Jahr 1967 wurden nach der Sprengung der letzten St. Petri-Kirche drei Schnitte auf dem ältesten Kirchhof Cöllns angelegt. In Schnitt C wurden damals die ältesten Kirchenfundamente angetroffen, die noch ältere Gräber zerstört. So war ein ähnlicher Befund wie an der Nikolaikirche zu konstatieren. Das Alter der beigabenlosen Gräber konnte nicht näher bestimmt werden. Der Ausgräber H. Seyer betonte, dass es bei seinen Untersuchungen keine Anhaltspunkte für eine slawische Besiedlungsphase gab. Von 2007-2009 fanden Ausgrabungen am ehemaligen Standort der St. Petri-Kirche (heute Petriplatz) unter der Leitung von C. M. Melisch statt. Dabei verdichtete sich die Datierung der frühesten Siedlungsaktivitäten in das erste Viertel des 13. Jahrhunderts, wie es auch in anderen mittelalterlichen Städten der Region zu beobachten ist.
Vom Kirchhof der St. Petri-Kirche wurden die Gebeine von 3.718 Personen aus 3.123 Gräbern geborgen. Bis auf wenige Ausnahmen waren alle Gräber mehr oder minder exakt von West nach Ost ausgerichtet. Im Gegensatz zu den 1995/96 am Heilig-Geist-Hospital gefundenen Bestattungen, bei denen zahlreiche irreguläre Totenhaltungen auftraten, fiel am Petriplatz die durchgehend reguläre Lagerung aller Toten auf.
Durch die während des Grabungsprojektes angelegte Datenstruktur in Kombination mit labortechnischen Untersuchungen, können aus den Gräbern vom St. Petri-Friedhof weit mehr Informationen generiert werden, als es üblicherweise der Fall ist. Die angewandte, spezielle Dokumentationsstrategie hat zu einem dichten, archäologischen Datenbestand geführt, der einfach und schnell zu verwalten ist. Es ist davon auszugehen, dass unter Beiziehung weiterer 14C-Beprobungen die Gräber vom St. Petri-Kirchhof bis auf ein halbes Jahrhundert genau datiert werden können. Dadurch kann der umfangreiche, osteologische Datenbestand in einer bislang nie da gewesenen Präzision strukturiert werden. Es wird möglich sein, die Individualdaten in Halbjahrhundertschritten aufzugliedern und somit die Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten, die Entwicklung des Längenwachstums oder auch die Mortalitätsraten nahezu generationsweise aufzugliedern. Daraus lassen sich einzigartige, feinchronologische Entwicklungen für Cölln ablesen.
Die Forschungen zum östlichen mittelalterlichen Landesausbau bauen immer stärker auf umfangreichen Datensammlungen auf, um die Untersuchung sehr komplexer Fragestellungen zu ermöglichen. Im Land Brandenburg nimmt dabei die interdisziplinäre Erforschung der Dörfer Horno und Diepensee im Rahmen von DFG-Projekten eine wegweisende Stellung ein, in Sachsen-Anhalt die Erforschung von Breunsdorf und Heuersdorf. Erst in der Zusammenschau von dörflicher und städtischer Siedlungs- und Bevölkerungsentwicklung lässt sich ein umfassendes Strukturbild der Veränderungen der historischen Landschaft entwickeln. Die Untersuchung und Phasenrekonstruktion des ehemaligen Friedhofs der St. Petri-Kirche ist ein Grundlagenbeitrag zur Erforschung der Bevölkerungsentwicklung in Berlin-Cölln.
Für historische Skelettserien kommt ein Vergleich mit Datensammlungen von rezenten Populationen, wie sie im rechtsmedizinischen Bereich üblich ist, nur bedingt in Frage, weil diese auf anderen Diagnosekriterien aufbauen und an sehr unterschiedlichen Populationen durchgeführt werden. In dieser Hinsicht sind die englischen und nordamerikanischen, paläopathologischen Datensammlungen richtungsweisend, deshalb soll hier eine Orientierung an den Datenbankstrukturen des Museum of London Archaeology (MoLA) erfolgen. Die am Petriplatz nach stratigrafischen Prinzipien geborgene Skelettserie eröffnet die Chance, die Bevölkerung Cöllns auf der Grundlage des umfangreichen neu geborgenen Personenbeispiels zu rekonstruieren und chronologisch zu beschreiben.
Um dieses Projektziel erreichen zu können, ergeben sich zwangsläufige Arbeitsschritte. Die Vorlage der Skelettserie vom Petriplatz als Referenzserie bildet den ersten Schritt. Die vom Landesdenkmalamt Berlin beauftragte Grunderfassung der Skelette beschränkte sich auf die Bestimmung des Geschlechts der Individuen und auf die Ermittlung der Körperhöhen und einiger Pathologica. Um Aussagen zur demografischen Entwicklung der Bevölkerung und zu deren Lebensbedingungen, Ernährungsgewohnheiten u.v.m. generieren zu können, ist jedoch eine detailliertere Erfassung osteologischer Parameter erforderlich. Die Aufbereitung und Ergänzung des vorhandenen Datenbestandes soll mit Hilfe von Spezialisten des Museum of London Archaeology erfolgen.
Im zweiten Arbeitsschritt soll die Raumorganisation (das Belegungsschema) des St. Petri-Kirchhofs untersucht werden. Während der Ausgrabung wurde jedes Skelett terrestrisch vermessen und in einem Gräberplan dargestellt. Der Gräberplan soll nun in ein Geografisches Informationssystem (GIS) überführt werden, um die Gräber mit Sachinformationen verknüpfen zu können. Auf diese Weise lassen sich aus dem GIS-Gesamtplan Themenpläne herauslösen, die den archäologischen und anthropologischen Spezifika chronologisch Rechnung tragen. Dabei sind das Lage- und Ausrichtungsverhältnis der Gräber zu Gebäuden, z.B. zur Kirche oder zu Wegen relevant. Aufgrund der dichten Belegung lassen sich vermutlich auch Rückschlüsse auf unterschiedliche Phasen der Durchwegung des Kirchhofs ziehen.
Der dritte Arbeitsschritt ist auf die Identifikation der Cöllner Ursprungsbevölkerung ausgerichtet. Durch die im zweiten Schritt zu vollziehende Phasenaufteilung der Gräber werden die stratigrafisch frühesten Bestattungen aus der Gesamtmasse der Gräber hervortreten. Mittels 14C-Datierungen kann deren Bestattungszeitraum (Liegezeit/ PMI) stärker eingegrenzt werden. Weil aus dem archäologischen Befund eine Ausdehnung der Kirchhoffläche am Ende des 13. Jahrhunderts oder im 14. Jahrhundert ersichtlich war, ist zu prüfen, ob es sich dabei um eine einmalige Strukturänderung gehandelt hatte, oder ob sich andere Erweiterungen abzeichnen, die möglicherweise mit Phasen erhöhter Sterblichkeit einhergehen. Weil die Siedlungsentstehung bislang völlig im Dunkeln liegt, ist es wichtig zu erfahren, ob sich in der ältesten Population Cöllns Familienverbände abzeichnen oder ob sich eine Einzelunternehmer/Kolonistenpopulation fassen lässt. Deshalb soll mit Hilfe von DNS-Untersuchungen die biologische Verwandtschaft der ältesten Population ausschnitthaft untersucht werden. Durch die forensische DNA-Analyse können außer der biologischen Verwandtschaft auch Erkenntnisse zur genetischen Zugehörigkeit der mittelalterlichen Siedler gewonnen werden, weil sich beispielsweise die slawische und die deutsche DNS unterscheiden. Da in der Mark Brandenburg eine Partizipation von Nachfahren einer ortsansässigen spätslawischen Bevölkerung aufgrund des brandenburgischen Forschungsstandes zur Keramik und zu schriftlichen Überlieferungen vorausgesetzt wird, dürfen von der genetischen Untersuchung der ältesten in Cölln gefundenen Gräber auch diesbezüglich neue Einsichten erwartet werden. Die Erforschung der Herkunftsterritorien der ältesten mittelalterlichen Population in Cölln soll mit punktuellen Isotopenuntersuchungen an Menschen- und Tierknochen abgesichert werden. Hieraus ergeben sich insbesondere für die historische Forschung Anknüpfungspunkte für die gezielte Recherche in Urkundenbeständen und Chronistik der Herkunftsgebiete, die Aufschluss über Besiedlungsvorgänge und Migrationsverhalten geben können. Auch sind durch die Bestimmung der Herkunft der ersten Siedler genauere Erkenntnisse über die Initiatoren der Siedlungsgründung zu erwarten, indem bestehende oder zu entwickelnde politische Kontakte verschiedener in Frage kommender Akteure zu der jeweiligen Region nachvollzogen werden. Hieraus könnte sich eine grundsätzlich neue Einordnung der mittelalterlichen Frühgeschichte des Berliner Raumes ergeben.
Der vierte Arbeitsschritt ist die Synthese der in vorhergehenden Arbeitsschritten generierten Informationen. Darauf aufbauend soll versucht werden, die mittelalterliche Bevölkerung Cöllns statistisch zu rekonstruieren und ihre Lebensbedingungen näher zu beschreiben. Dabei bleibt offen, in welche Zeitstufen sich die mittelalterlichen Bestattungen am Ende aufgliedern lassen werden und wie groß die für die einzelnen Zeitphasen vorliegenden Personenbeispiele sein werden. Natürlich wäre es wünschenswert, das Skelettmaterial in Halbjahrhundertschritte aufzugliedern, doch müssen die Skelettdaten der einzelnen Zeitstufen statistisch aussagekräftig sein. Möglicherweise muss das mittelalterliche Personenbeispiel in größere Zeithorizonte (z.B. nach Jahrhunderten) unterteilt werden. Aus historischer Sicht ergeben sich ohnehin andere Zeitschritte, als aus archäologischer Sicht. Sicher bildet die Phase des Siedlungsursprungs bis zur Stadtrechtsverleihung eine der interessantesten Perioden. Aus anthropologischer Sicht sind u. a. die Zeit der ersten Pestwelle (Berlin 1348) und die nachfolgenden Epidemien mit ihren spezifischen Auswirkungen auf die lokale Bevölkerungsentwicklung von hohem Interesse.
Der internationale Datenaustausch ist ein Grundanliegen des Projekts, um andere Wissenschaftler in die Lage zu versetzen, Fragestellungen zur mittelalterlichen Bevölkerung Europas unter Einbeziehung der Berliner Ergebnisse zu bearbeiten. Die anthropologischen und archäologischen Daten sollen deshalb nach der Erstpublikation auf der Website des Centre for Human Bioarchaeology der internationalen Forschercommunity zur Verfügung gestellt werden. Zudem wird ein Blog auf der Website der Humboldt-Universität eingerichtet, auf dem die Wissenschaftler über den akutellen Fortgang des Projekts berichten.