Warum Geschichte studieren?
Viele würden sagen: weil man aus der Geschichte für die Zukunft lernen kann. Aber stimmt das denn? Sicher würde man diese Frage heute nicht mehr so simpel beantworten wie vor 150 Jahren, als der Fürstennachwuchs in Geschichte unterrichtet wurde, um daraus Beispiele für richtiges politisches Handeln zu lernen. Geschichte wiederholt sich nicht einfach, und heute wird uns immer mehr bewusst, dass wir eine Zukunft vor uns haben, die so ganz anders sein wird als die Vergangenheit – man denke nur an die Digitalisierung der Welt, von der vor 20 Jahren noch kaum jemand eine Ahnung hatte und für die die Geschichte nicht ohne weiteres Anleitungen liefern kann. Wozu dann die Beschäftigung mit der Vergangenheit?
Eine erste Antwort darauf: weil schon die Geschichte uns lehrt, dass nichts so bleiben wird, wie es ist. Inzwischen diskutieren wir in der Geschichtswissenschaft nicht nur, dass politische und Wirtschaftssysteme früher anders waren als heute. Vielmehr fragen wir heute auch nach der historischen Veränderlichkeit von Körpern, Gefühlen oder sozialen Werten. Fast alles, was wir heute für selbstverständlich, gar vielleicht für natürlich halten, erweist sich bei genauerem Hinsehen als historisch gewachsen und also wandelbar. Wer Geschichte studiert, lernt mithin, dass die Dinge historisch sind und deshalb morgen anders sein können als heute.
Geschichte bereitet so in der Tat für die Zukunft vor, aber nicht einfach als eine Blaupause, sondern als Bewusstsein, dass wir offen für alle möglichen Entwicklungen sein müssen.
Eine zweite Antwort: wenn man die Mönche des Mittelalters studiert, die amerikanischen Siedler des 18. Jahrhunderts oder die athenischen Bürger, dann lernt man, wie verschieden Menschen und Gesellschaften sein können. Das, was jenen als selbstverständlich oder natürlich erschien, erscheint uns als fremd. Wer Geschichte studiert, lernt also einen „ethnologischen“ Blick, der uns ein breites Panorama darauf eröffnet, wie verschieden Menschen und Kulturen sein können.
Diese Perspektiven relativieren unsere Gegenwart und die Art, wie wir leben. Sie geben uns ein Gefühl dafür, wie wenig „normal“, „selbstverständlich“ oder „natürlich“ unsere Lebensformen sind. Sie ermutigen uns, offen für Wandel zu sein. Geschichte bereitet so in der Tat für die Zukunft vor, aber nicht einfach als eine Blaupause, sondern als Bewusstsein, dass wir offen für alle möglichen Entwicklungen sein müssen.
Ein historisches Bewusstsein ist insofern nicht nur für die professionellen Historiker von Nutzen. Und tatsächlich werden auch nur mehr wenige Absolvent_innen unseres Faches berufsmäßige Historiker. Geschichte ist ein Fach für viele geworden, weil man sich hier – neben der historischen Perspektive – auch viele praktische Kompetenzen erwirbt, die noch bei ganz anderen Tätigkeiten von Wert sind.
Erstens: Bei uns lernt man zunächst, nicht einfach jeder Aussage zu glauben, die man liest, sondern sie mit anderen Aussagen zu konfrontieren. Indem man bei uns vor allem trainiert, den Quellen – also dem Material, hinter das man nicht zurück kann – nachzuspüren und ausgehend von diesen Befunden die historische Wirklichkeit einzuordnen, lernt man, den Wahrheitsgehalt von Aussagen kritisch zu hinterfragen. Dieser kritische Blick gilt jedoch auch für die Quellen selbst: Wenn wir etwa historische Daten nicht nur benutzen, sondern auch untersuchen, wie diese denn überhaupt produziert wurden, wer ein Interesse daran hatte, dies zu wissen, dann fragen wir auch nach dem Aussagewert der Quellen: Wir betreiben Quellenkritik. Wer Geschichte studiert, lernt geistige Selbständigkeit und läßt sich nicht mehr ohne weiteres von „objektiven“ Daten oder starken Meinungen ins Bockshorn jagen.
Wer Geschichte studiert, lernt also schreiben und vortragen, und zwar so, dass auch andere das verstehen.
Zweitens: In unserem Fach muss man sich ständig in neue Gegenstände einarbeiten und durch Quellenstudium und Quellenkritik zum Spezialisten für Themen werden, von denen man vorher keine Ahnung hatte. Man wird sich beispielsweise mit Wirtschaftspolitik, religiösen Kulturen, Sexualität, Verfassungstheorie oder Terrorismus in historischer Perspektive beschäftigen. Man kann lernen, alte Schriften zu lesen, sich das Englisch des 18. Jahrhunderts anzueignen oder Stadtplanung im 19. Jahrhundert verstehen. Wer Geschichte studiert, erwirbt sich also nicht nur eine breite Bildung, sondern auch das Selbstbewusstsein, dass man sich jedes Wissensgebiet erarbeiten kann, wenn man es denn will.
Bild: Matthias Heyde |
Drittens: Wer Geschichte studiert, bekommt nicht einfach ein Wissen vorgesetzt, das er dann zu lernen hat, sondern wird darauf trainiert, sich Wissen selbst zu erarbeiten, und sehr häufig auch, selber zu entscheiden, wofür er sich interessiert. Wir leiten dazu an, eigene Fragen zu entwickeln und sich selbst kundig zu machen. Deshalb können Historiker exzellent recherchieren; sie sind mit kriminalistischer Energie dabei, Dinge herauszufinden und geben sich nicht mit dem ersten besten Wikipedia-Eintrag zufrieden. Wer Geschichte studiert, ist neugierig und hat Spürsinn.
Viertens: Solche Ergebnisse müssen ja präsentiert werden, sei es in mündlicher oder in schriftlicher Form. Sie sind oft komplex, so dass wir wissen müssen, wie wir schwierige Dinge so darstellen, dass auch andere sie verstehen. Wir müssen einerseits Fachsprachen beherrschen (und eben auch der Wirtschaft oder der Theologie, wenn wir mit einem solchen Thema zu tun haben), andererseits lernen zu vereinfachen. Wer Geschichte studiert, lernt also schreiben und vortragen, und zwar so, dass auch andere das verstehen. |
Fünftens: Weil das Fach unter Umständen viel an speziellen Kompetenzen und an Interesse für das "Andere" verlangt, wird bei uns nicht nur das Lernen dieser Kompetenzen (vor allem anderer Sprachen) gefördert, sondern auch der Studienaufenthalt im Ausland. Wir fördern dies aktiv durch Partnerschaften mit vielen Universitäten vor allem in Europa. Ebenso sind die Praktika, die man im Studium absolviert, breit gestreut, und man erhält damit nicht nur einen Einblick in neue Arbeitsbereiche, sondern schafft sich auch Kontakte und Netzwerke. Wer Geschichte studiert, lernt viel über andere Länder, Kulturen und Arbeitsfelder.
Geschichte studieren heißt also, viele Türen zur Welt aufzustoßen.
Mit diesem Strauß von Kenntnissen und Kompetenzen kann man mit einem Geschichtsabschluss weit mehr als nur Geschichte betreiben. Natürlich gehen viele unserer Absolvent_innen ins Lehramt, und natürlich finden sich viele Historiker in geschichtsnahen Bereichen, etwa Museen oder der politischen Bildung. Manche gehen auch in die Wissenschaft. Aber sie finden sich auch sehr häufig bei Zeitungen, im Fernsehen, bei Verlagen oder den sozialen Medien. Sie sind tätig für Interessenverbände oder politische Parteien; immer mehr gehen auch in Industrieunternehmen, wo sie im Personalbereich, in der Grundsatzabteilung oder der Öffentlichkeitsarbeit tätig sind. Geschichte studieren heißt also, viele Türen zur Welt aufzustoßen.